Die Handlungsmacht des Betrachters
Kunstausstellungen und ihr Publikum
Die Kunstgeschichte und verwandte Disziplinen schweigen sich meist über die Vorgänge aus, die im Inneren eines Betrachters visueller Kunstwerke stattfinden, wobei unterstellt wird, dass der Betrachter lediglich passiv auf die jeweiligen Reize reagiert. Jede menschliche Wahrnehmung ist jedoch ein aktiver Vorgang, bei dem der Wahrnehmungsapparat nach Maßgabe seiner Spezifik eine Wahrnehmung erst konstruiert. Das wird in der Kunstgeschichte zwar theoretisch zugestanden, aber inhaltlich nicht weiter ausgeführt.
Inzwischen haben Neuropsychologen versucht, mit ihren neu entwickelten Methoden diesbezüglich zu gesicherten Resultaten zu kommen, aber sie stehen erst am Anfang und sind weit davon entfernt, erschöpfende Antworten liefern zu können. Unter anderem werden in beiden Wissenschaftszweigen die Faktoren „set“ und „setting“ nicht genügend berücksichtigt.
Im vorliegenden Buch wird nicht nur das „setting“, das unser gegenwärtiges westliches Kunstausstellungswesen bietet, eingehend untersucht, sondern auch der „set“, das heißt die jeweiligen Zustände des Gehirns. Dabei werden sowohl stabile bauartbedingte Eigenheiten der menschlichen Wahrnehmung beschrieben als auch Faktoren wie Motivation, Expertise oder Aufmerksamkeit, die je nach Kultur, Situation und Individuum einem starken Wandel unterliegen. Es zeigt sich, dass gerade bei der Rezeption von Kunst unser offenbar nach ästhetischen Prinzipien operierendes Gehirn stärker zur Geltung kommt als bei alltäglichen Wahrnehmungsvorgängen.