Die Gestalt der biblischen Judith in der Kunst des 19. Jahrhunderts - von der Heldin zur „femme fatale“
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In allen Epochen der Kunstgeschichte wurde die blutrünstige biblische Erzählung, in der die keusche Witwe Judith durch Klugheit und Mut den assyrischen Feldherrn Holofernes tötet, dargestellt. So gründet sich Artemisia Gentileschis Ruhm auf ihren grandios inszenierten Schilderungen der Enthauptung des Holofernes; auch Donatello, Bernini, Konrad Meit, Lucas Cranach d.Ä. und Tiepolo nahmen sich der Heroine an. Während in Kunstwerken ab dem Mittelalter vorrangig die Tugendhaftigkeit und der Sieg über das Laster exemplarisch an der Witwe aus Bethulia aufgezeigt wurden, förderten Aktdarstellungen ab der Neuzeit Assoziationen mit der Verführung des Mannes durch die weibliche Erotik. In der Kunst des 19. Jahrhunderts wird das Judith-Thema wieder vermehrt aufgegriffen, wobei die Protagonistin einer radikalen Umdeutung unterliegt: wird um die Jahrhundertmitte noch die biblischen Heldin von Horace Vernet, August Riedel, Friedrich von Amerling und Theodor Hildebrandt monumentalisiert ins Bild gesetzt, gewinnt Judith um 1900 als erotische, dabei skrupellose Frau an Anziehungskraft. Diese Metamorphose erreicht ihren Höhepunkt mit den dämonischen, lasziv-verführerischen Figuren der Judith-Gemälde von Gustav Klimt und Franz von Stuck. Die nackte Judith eroberte die Leinwände der Künstler, wobei der Tötungsakt zum Sinnbild des Geschlechterkampfes wurde. Stark beeinflusst wurde diese Umdeutung der Judith-Figur durch Friedrich Hebbels literarische Bearbeitung des Judith-Stoffes von 1840 sowie den gesellschaftlichen Diskurs der Jahrhundertwende um das Verhältnis zwischen Mann und Frau. Die Enthauptung des Holofernes durch Judith wurde somit zum Paradigma des Geschlechterkonflikts, wodurch sich die Beliebtheit des Sujets um die Jahrhundertwende erklären lässt. Die ehemals keusche und gläubige Witwe war zu einer sexualisierten femme fatale geworden.