Radio Schreber
Der ›moderne Spiritismus‹ und die Sprache der Medien
Die „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“, 1903 vom Senatspräsidenten a.D. Daniel Paul Schreber verfaßt, sind nicht einfach ein delirantes Produkt einer Krankheit namens Psychose. Sie erweisen sich vielmehr als strategischer Diskurs eines richterlichen Ichs, das auf eine besondere Weise unangetastet zu bleiben versucht von dem, was man, so oder so, eine ‚Geisteskrankheit‘ nennen mag. Von diesem Residuum aus konnte Schreber seinen Diskurs der Einschreibung beginnen, nämlich die Verortung seiner tiefen halluzinatorischen Störungen und abgeleiteten Wahnszenarien in einen gleichfalls tief gestörten Diskurs. Es ist der Diskurs eines damals neuen, aktuellen, vielversprechenden Zweigs einer Welt- und Naturwissenschaft. Ihr Name lautet „moderner Spiritismus“. Sie existierte, von 1903 aus gesehen, schon jahrzehntelang in der empirischen Praxis der Trance, der Telepathien und Telekinesen, sie hatte den Anfängen der empirischen Psychologie, auch der Linguistik Saussures wichtige Anstösse gegeben und galt berühmten Physikern in England und Deutschland auch um die Jahrhundertwende noch als Erklärungsmuster für ‚letzte Fragen‘.
Mit seiner wahrhaft psychotischen Spur verbirgt und ersetzt das spiritistisch/mediumistische Pseudowissen des 19. Jahrhunderts einen Mangel im epistemologischen Wissen der zeitgenössischen Physik, in Sonderheit einen Mangel im Wissen um die Elektrizität. Im Kontext dieses psychotischen Mangels und seiner Ersetzungsspur schreibt Schreber seinen Wahn in ein paradoxales Radiosystem hinein. Sein Diskurs einer Wahnableitung macht uns deutlich, welches Zwangssystem des Verhörens seiner eigenen als fremder Stimme aus der puren medialen Existenz eigener/fremder Stimmen und Sounds resultiert. Diesem Schreberschen Verhören, diesem Falsch-Hören, kann abgelauscht werden, was jenes ‚echte‘ Radiohören bedeuten mag, das uns, zwei Jahrzehnte nach Schreber in die Welt gesetzt, seither unaufhörlich begleitet.