Jochanan Shelliem (Hg.)
Als Gefängnisarzt im Nürnberger Prozess
Das Tagebuch des Dr. Ludwig Pflücker
Als das Tagebuch des Gefängnisarztes von Nürnberg im Oktober 1952 in 21 Folgen in der Waldeckischen Landeszeitung erschien, herrschte im übrigen Deutschland gegenüber den Massenmördern des Dritten Reich und allen, die damit beteiligt waren, ein Begnadigungsfieber. Der Kalte Krieg war auf dem Höhepunkt, die Waldeckische Landeszeitung schrieb für das Zonenrandgebiet. Wilhelm Bing aus Korbach muss ein besonderer Verleger gewesen sein, dass er das Pflückersche Tagebuch in seiner Landeszeitung veröffentlichte, zu einer Zeit, da die nach Kriegsende von den alliierten Militärgerichten Verurteilten begnadigt wurden und Heinrich Globke, geschützt vom Nachkriegskanzler Konrad Adenauer, für ehemalige Nationalsozialisten rechtsfreie Räume schuf und die Führer von Einsatzkommandos, zuständig für Massenerschießungen, wieder auf freien Fuß gelangten.
Sieben Jahre nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches legte der Waldecker Kurarzt und Urologe Dr. Ludwig Pflücker sein Tagebuch als Gefängnisarzt in Nürnberg vor. Er hatte sich nicht nach diesem Posten gedrängt, eigentlich hatte er nur besser essen wollen, als er sich am 9. Juli 1945 im Lager Mailly zur Arbeit meldete. Pflücker wurde nach Bad Mondorf gefahren und im Grandhotel einem Gefangenen im rotseiden geblümten Schlafrock mit Bronchitis vorgestellt, Hermann Göring. Bald sprach Dr. Pflücker auch mit Rudolf Heß, der ihn mit Bitten bombardierte, mit Fritzsche und von Ribbentrop, mit Keitel, Höß und Rosenberg.
Dr. Pflücker begleitete seine Patienten nach Nürnberg, denn als Vertrauensperson hatte er die Angeklagten des Ersten Nürnberger Prozesses bis zu ihrer Verurteilung und Hinrichtung zu betreuen. Er beschreibt deren Verhalten, die Selbstmorde Görings und Leys, die er aus nächster Nähe miterlebte, und die Hinrichtung der Verurteilten.
Der DeutschlandFunk hat seine Notizen in einer dreistündigen Sendung den Aussagen anderer Zeitgenossen gegenüber gestellt. Die »Lange Nacht von Nürnberg« enthält neben Aussagen der Angeklagten und O-Tönen aus dem Prozess die Erinnerungen von Richard W. Sonnenfeldt, dem Chefdolmetscher der amerikanischen Anklage, sowie Berichte der Journalisten Golo und Erika Mann, John Dos Passos, Victoria Ocampo, Ilja Ehrenburg und Erich Kästner. In dieser Collage kommen auch Ernst August Schepmann und Peter Lieck, Otto Sander und Martin Semmelrogge, Rosemarie Fendel und Marietta Bürger zu Wort. Die Sendung liegt dem Band in voller Länge als Audio-Hörbuch bei.
Neben dem Tagebuch Dr. Ludwig Pflückers und den Abbildungen handschriftlicher Notizen der Gefangenen erläutern folgende Kapitel den Kontext:
Die Tochter Dr. Ludwig Pflückers, Frau Dr. Elisabeth Naumann, beschreibt die Persönlichkeit ihres Vaters und erhellt die Hintergründe seines Todes. Dr. Ludwig Pflücker starb sechs Jahre nach dem Prozess an Depressionen.
Prof. Wolfgang Benz, Leiter des Zentrums für Antisemitismus an der TU-Berlin, schätzt die Aufzeichnung Dr. Pflückers im Chor der zeitgenössischen Dokumente zum Nürnberger Prozess ein.
Die Professoren Joachim Rükert, Johann Wolfgang Goethe Universität, und Michael Stolleis, seit 1991 Direktor am Max Planck Institut für europäische Rechtsgeschichte, diskutieren über die Bedeutung der Nürnberger Prozesse.
Prof. Joachim Perels geht auf die Bedeutung des Pflückerschen Tagebuches im Kontext der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit ein.
Prof. Iring Fetscher beschreibt die Stimmung in den Fünfzigern, den Kalten Krieg und das Begnadigungsfieber aus eigener Erfahrung.
Volkhardt Knigge, Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, denkt über das pädagogische Potential des Tagebuches für unsere Tage nach.
Prof. Krause-Vilmar, Interims-Direktor des Fritz Bauer Institutes an der Johann Wolfgang Goethe Universität, erläutert den hessischen Aspekt der Auseinandersetzung um die NS-Vergangenheit und die Einschätzung der Nürnberger Prozesse in den fünfziger Jahren.