Karl Braun, Christian Boller, Marta Leonora Frank, Felix Linzner
Friedenszeiten
Zum Eigensinn der Monate Januar 1913 bis Juli 1914
Mit klarer Hellsicht hatte Gerhard Hauptmann am 31. Juli 1914 den sich abzeichnenden Weltkrieg als eine „Ur-Katastrophe“ gespürt, als er in sein Tagebuch notierte: „Gestern kritischer Tag erster Ordnung für Europa und jeden Europäer [...] Man spürte die Hinfälligkeit des allgemein gepriesenen Kulturzustandes: man ahnte nahe, nächst! – den Zusammenbruch. [...] Das wohlbekannte Gesicht Europas löscht aus.“ Das Gesicht Europas war 1918 durch den Horror des ersten modernen Krieges ein anderes, eines, in dem sich dasjenige von 1913 nicht wiedererkennen, kaum mehr auffinden ließ. Wie aber war die kulturelle und soziale Gestimmtheit 1913 und in der 1. Hälfte 1914? Der Bruch, den der Weltkrieg bedeutet, hat den Eigensinn dieser neunzehn Monate zur bloßen Vorkriegszeit reduziert und im kulturellen Gedächtnis weitgehend zum Verschwinden gebracht. Die Eigenlogik dieser Monate soll in einem synchronen Zeitschnitt, d.h. ohne Berücksichtigung der zukünftigen Kriegs- und Revolutionsereignisse, herausgearbeitet werden: Es wird also der Versuch der Wiederherstellung einer ausgelöschten kulturellen Physiognomie unternommen. Wer weiß schon, - dass der zu erwartende technologische Fortschritt als Garantie für Frieden in Europa gesehen wurde, - dass ein Großteil der waffenklirrenden Reden zum Kriegsausbruch schon 1913 zur Erinnerung an den Beginn der Befreiungskriege und die Niederringung Napoleons gehalten worden war, - dass 1913 die erste von Jugendlichen in Eigenregie redigierte Zeitschrift 1913 erschien und aus Gründen des „Anstands“ schon im Frühjahr 1914 verboten wurde, - dass – aus Gründen von Degenerationsangst – medizinische und utopisch-gesellschaftliche Programme zur Verbesserung des Erbguts in voller Blüte standen, - dass im Zeichen der sich ausbildenden Sexualwissenschaft die männlichen und weiblichen Zuschreibungen ziemlich durcheinander gerieten, - dass Suffragetten einen radikalen Kampf für das Frauenwahlrecht führten und terroristische Elemente dieses Kampfes melodramatisch im Film aufgegriffen wurden, - dass Tänze aus Amerika, z.B. Tango und Cake Walk, boomten und als Wackel- und Schiebtänze staatlicher Verfolgung ausgesetzt waren, - dass avantgardistische Manifeste in Masse die überkommenen künstlerischen Formen abzuräumen begannen. Unser studentisches Projekt vertritt einen anderen Anspruch als Florian Illies’ „1913. Der Sommer des Jahrhunderts“. Denn das 1913er Avantgarde-Handeln zur Zertrümmerung hergebrachter Formen in Kunst, Literatur und Musik, welches als Ausgangspunkt künstlerischen Schaffens im 20. Jahrhundert gelten muss, mag zwar „sommerlich“ gewesen sein, aber als „Reife- und vorbereitende Erntezeit“ steht es im allgemeinen Kulturprozess ziemlich singulär. „Das wohlbekannte Gesicht Europas löscht aus“: Uns interessieren zwar auch die „Keime“, die sich über den Krieg hinweg – anders vielleicht als ohne ihn – entwickelt haben mögen, aber genauso interessieren uns die Nicht-Kontinuität, der Abbruch, die Verwischung kultureller Phänomene, also der Eigensinn der 19 Monate zwischen Januar 1913 und Juli 1914.